Anwartschaft bei Berufsunfähigkeit

Ich wurde von der Krankenversicherung für berufsunfähig erklärt. Soll ich den mir zugesandten Antrag auf Abschluss einer Anwartschaftsversicherung unterschreiben?

 

Meine Antwort lautet klipp und klar „jein“. Dass die Antwort so diffus ausfällt, liegt nicht daran, dass ich mich nicht festlegen will, sondern daran, dass der Teufel – wie immer – im Detail steckt.

 

Mit der Berufsunfähigkeit endet die Krankentagegeldversicherung, da sie nur die Risiken des Verdienstausfalls infolge von Arbeitsunfähigkeit abdeckt. Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit schließen einander – jedenfalls typischerweise – aus. Berufsunfähigkeit im Sinn der Krankentagegeldversicherung setzt die Prognose voraus, dass der Versicherte auf nicht absehbare Zeit zu mindestens 50 % in dem ausgeübten Beruf erwerbsunfähig bleiben wird. Das Risiko von Berufsunfähigkeit wird durch eine Krankenversicherung nicht versichert, dafür gibt es ja die Berufsunfähigkeitsversicherung.

 

Der BGH hat allerdings mit seiner Entscheidung vom 22.01.1992 die Wirksamkeit der Klausel, wonach die Krankentagegeldversicherung wegen Berufsunfähigkeit endet, von der Voraussetzung abhängig gemacht, dass dem Versicherten eine Anwartschaftsversicherung angeboten wird. Denn die Berufsunfähigkeit muss nicht für immer bestehen, der Versicherte kann – nach einem längeren Zeitraum, zum Beispiel in zwei bis drei Jahren - wieder berufsfähig werden. Wenn der Versicherungsnehmer nun seinen Versicherungsschutz unwiederbring-lich verloren hätte, müsste er sich erneut versichern. Aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen, erheblichen Erkrankung, aufgrund derer er berufsunfähig wurde, wäre das zu versichernde Risiko erheblich gestiegen. Der Versicherungsnehmer müsste nun deutlich höhere Beiträge zahlen, vermutlich wird die Krankenversicherung seinen Antrag gar nicht mehr annehmen.

 

Daher muss die Krankenversicherung dem Versicherungsnehmer eine Anwartschaftsversicherung anbieten, wenn sie ihn für berufsunfähig erklärt. Wenn der Versicherungsnehmer wieder berufsfähig wird, wird die alte Krankentagegeldversicherung wieder aktiviert, ohne dass der Versicherungsnehmer noch einmal Gesundheitsfragen zu beantworten hat. Er muss natürlich auch keinen Risikozuschlag für neu hinzugetretene Krankheiten zahlen. Die (leistungslose) Anwartschafts-versicherung ist freilich nicht kostenlos, aber die Beitragshöhe verhältnismäßig gering.

 

Mittlerweile haben sich die Versicherer auch in ihren Versicherungsbedingungen dazu verpflichtet, dem als berufsunfähig erklärten Versicherungsnehmer eine Anwartschaftsversicherung anzubieten.

 

Sind die Interessen des Versicherungsnehmers nun ausreichend geschützt? Mitnichten! Wenn der Versicherungsnehmer nämlich den ihm unaufgefordert zugesandten Antrag auf eine Anwartschafts-versicherung unterschreibt, gibt er auch sein Einverständnis zur Vertragsänderung. Es ist sehr fraglich, ob er noch einwenden kann, er sei ja gar nicht berufsunfähig.

 

Meines Wissens wurde ein derartiger Fall noch nicht gerichtlich entschieden. Der BGH hat immerhin im Falle einer Berufsunfähigkeitsversicherung geurteilt (Urteil vom 30.03.2011, Geschäftsnummer: IV ZR 269/08), dass individualvertragliche Vereinbarungen über Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversiche-rung daraufhin überprüft werden können, ob darin enthaltene Beschränkungen der bedingungsgemäßen Rechte des Versicherungsnehmers auf seiner freien Entscheidung oder einer treuwidrigen Ausnutzung der überlegenen Verhandlungsposition des Versicherers beruhen. Wegen der speziellen Ausgestaltung der Berufsunfähigkeitsversicherung ist der Versicherer nach Treu und Glauben in besonderer Weise gehalten, seine überlegene Sach- und Rechtskenntnis nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers auszunutzen.

 

Ein starkes Indiz für einen Verstoß gegen Treu und Glauben, so der BGH, ist regelmäßig anzunehmen, wenn die nach dem Vertrag bestehende Rechtslage durch die Vereinbarung zum Nachteil des Versicherungsnehmers geändert und seine Rechtsposition dadurch ins Gewicht fallend verschlechtert wird. Vereinbarungen, die derart gewichtige, von der objektiven Rechtslage abweichende Nachteile für den Versicherungsnehmer zur Folge haben, sind nur in engen Grenzen möglich. Sie erfordern vor ihrem Abschluss klare, unmissverständliche und konkrete Hinweise des Versicherers darauf, wie sich die vertragliche Rechtsposition des Versicherungsnehmers darstellt und in welcher Weise diese durch den Abschluss der Vereinbarung verändert oder eingeschränkt wird.

 

Hat sich der Versicherungsnehmer vor seiner Antragstellung auf eine Anwartschaftsversicherung nicht gegen das Vorliegen von Berufsunfähigkeit gewehrt, sieht es meines Erachtens nicht besonders gut aus, auch wenn in derartigen Fällen immer auch der Einzelfall zu berücksichtigen ist. Ich warne vor allem davor, sich leichtgläubig auf mündliche Zusagen oder Erklärungen von Angestellten einer Versicherung zu verlassen. Denn den Beweis muss der Versicherungsnehmer erbringen. Bei einem Telefonat wird das erfahrungsmäßig sehr schwer, wenn der Versicherungsangestellte später das Gegenteil behauptet. Vielleicht liegt ja auch ein Missverständnis vor.

 

So könnte es auch bei einer Mandantin gewesen sein, die sich auf die telefonische Auskunft ihrer Versicherung verlassen hatte, dass sie „aus formalen Gründen“ die von der Krankenversicherung ausgesprochene Beendigung ihrer Krankentagegeldversicherung bis zu deren Rückabwicklung "akzeptieren müsse". Der Sachbearbeiter wusste später natürlich nichts mehr davon und hätte sich ohnehin auf den Standpunkt stellen können, dass nun mal nach den ihm vorliegenden Unterlagen Berufsunfähigkeit vorläge. Abgesehen davon ist es nicht klug, sich im Falle einer Vertragsbeendigung auf den juristischen Rat des Vertragspartners zu verlassen. Meine Mandantin war nicht rechtschutzversichert und traute sich nicht zu klagen, da ich geschätzt hatte, die Chancen stünden nicht besser als 50 : 50. 

 

Geschickter ist es, wenn der Versicherungsnehmer den Abschluss der Anwartschaftsversicherung unter der Bedingung beantragt, dass er berufsunfähig ist. Die Krankenversicherungen bestehen allerdings auf ihren Formblättern, auf denen kaum Platz vorhanden ist, handschriftlich eine Bedingung einzufügen.

 

Liegt Berufsunfähigkeit vor oder scheut der Versicherungsnehmer den Rechtsstreit, muss er ggf. u. a. folgende Nachteile hinnehmen:

 

  • Er bekommt nach einer drei- oder sechsmonatigen Nachleistungspflicht kein Krankentagegeld mehr.

 

  • Den Eintritt der Berufsunfähigkeit muss der Versicherer beweisen, ihren Wegfall der Versicherungsnehmer. Das heißt, nun muss der Versicherungsnehmer beweisen, dass er nicht mehr berufsunfähig ist.

 

  • Einem berufsunfähigen Selbstständigen kann leichter die Aufgabe seiner beruflichen Tätigkeit unterstellt werden als einem bloß arbeitsunfähigen Selbstständigen – auch dann endet die Krankentagegeldversicherung wegen Wegfalls der Versicherungsfähigkeit.

 

  • Wenn der Versicherte selbständig ist und seine berufliche Tätigkeit wieder aufnimmt, kann die Krankenversicherung das versicherte Krankentagegeld kürzen, wenn sein Einkommen aufgrund der Unterbrechung seiner selbständigen Tätigkeit absinkt.

 

In jedem Fall: Erklärt die Krankentagegeldversicherung Sie für berufsunfähig und sind Sie anderer Meinung, empfiehlt es sich, schleunigst die Beratung durch einen Rechtsanwalt in Anspruch zu nehmen. So schonungslos die Krankenversicherung die Schwächen im System auszunützen scheint: Auch die Krankenversicherungen begehen meiner Erfahrung nach systematische Fehler. Die werde ich aber hier nicht verraten, vielleicht liest ja ein Sachbearbeiter mit.

Share by: